Ein Klassentreffen im April 2015
Von Malte Bardt
Von links nach rechts:
Ilse Allermann
Thomas Achelis mit Frau
dahinter Heiko Lindhorst
Malte Bardt
Ingo Bischof
Helmut Seeburg
Manfred von Negelein

So lange schon liegt sie zurück, die Zeit, als es unsere Klasse in unserer Schule, Ottersberg, gab. Wir waren in alle Winde geweht, damals 1953, manche etwas früher, andere gleich danach; auf andere Schulen, um dort Abi zu machen, gleich ins Studium, in die Lehre; aber wohin auch immer, unsere Schule, unsere Lehrer, unsere Weggefährten blieben uns, hatten uns geprägt.

Mancher sagte beim Treffen : „Wir haben nur wenig gelernt, aber genug für unseren Weg.“ Und erntet Widerspruch. Ein anderer: „...wahnsinnig viel gelernt und eine umfassende Allgemeinbildung bekommen!“ Meine Eigene Bildung hatte mehr Lücken als Inhalte, aber da hatte es ja auch Jahre des Krieges und der Flucht gegeben, ohne Schule. Und ich hatte Lernen gelernt, war weltoffen und gierig danach, selber zu lernen.

Wir alle, glaube ich, sind in dieser Zeit typisch „Waldorf“, sogar typisch für diese Schule, eben typisch „Ottersberg“ geworden und geblieben. Das oder ähnliches entdeckten alle, die dabei waren, beim Klassentreffen im April 2015, bei allen Unterschieden zwischen uns und zwischen unseren Lehrern. Und wir sind darüber alt geworden, so um die 80.
Ursprünglich waren wir eine große Klasse und saßen dicht beieinander. Dreiundsechzig sollen es gewesen sein, angeblich dreiundsechzig Schüler in einer Klasse, in einem Barackenzimmer.

Als ich dazu kam, 1948/49, in die 5. Klasse, schon im Amtshof, im Eckzimmer im 1. Stock, gleich vom Turm aus, waren wir immer noch 43. Heute unvorstellbar.

Von vielen haben wir noch die Adressen und konnten sie einladen. Und die folgenden kamen:
Thomas Achelis, Nele Barkhausen, Lilo Gildemeister, Manfred v. Negelein, Ingo Bischof, Hilde Dörl, Ilse Allermann, Heiko Lindhorst, Helmut Seeburg, ich selbst. Zu unserer großen Freude manche gemeinsam mit ihren Partnern. Danke!

Immer wieder, und in allen Gesprächen waren unsere Lehrer gegenwärtig:
Fräulein Kaufmann, die ihre ganze Kraft und Persönlichkeit an uns vielen aufgerieben haben muss.. und es geschafft hat, sogar griechisch mit uns zu rezitieren, aus der Odyssee. Später ging sie nach Heidenheim, wo ich ihr wieder begegnete, während meiner Lehre.

Herr Schommertz, der gleich nach ihr kam, glaube ich.
Fräulein Coerper, die versuchte, uns ihr stilvolles oxford-englisch beizubringen, und mit uns allen in Bremen einen unvergesslichen Theater-Abend mit King Lear erleben ließ, und die mit uns neben guten Manieren langsamen Walzer und Slowfox übte. Dem landläufigen Muster einer Waldorf- Lehrerin entsprach sie weniger. Aber ich verehrte diese eigenwillige Persönlichkeit.
Auch Dr. Rath, unser geduldiger Mathelehrer, er wohnte, meine ich, lange im Amtshof.
Besonders natürlich, der von allen verehrte und geliebte Herr Boos, der jeden seiner Schüler noch nach vielen Jahrzehnten beim vollständigen Namen nannte.
Herr Bourwig, der uns mit erzieherischer Absicht boxen ließ; ach, so schwer wurden die Boxhandschuhe in der dritten Runde; und mit noch viel schwereren Medizinbällen Völkerball spielen ließ, hinter der Baracke.
Der grandiose Musiklehrer und Dirigent Herr Meyer, der leider nach Ulm ging.
Beide Muschters, für Latein und Französisch, beide unauffällig und bescheiden; sie lebten auf dem Amtshof und damit ganztägig unter der Herrschaft von Fräulein Kiefel. Arme Christiane. Sie muss mit ihnen gelitten haben.
Das Ehepaar Pütz, die begnadeten Kunsterzieher und Künstler, auch wenn mir ihr Stil nicht behagte. Die Kunstakademie ist ihre Schöpfung.

Sie und viele andere, wie, die Eurythmie-Lehrerin, zu der ich sogar manchen Abend freiwillig von Otterstedt in ihren Abendkurs fuhr, die Gartenbaulehrerin, bei der ich wirklich viel gelernt habe. Sie alle wurden im April 2015 wieder lebendig, nach mehr als 60 Jahren, genauso lebendig, wie der Küchengeruch im Speisesaal, der des Fußbodens im Eurythmiesaal, beide in der selben Baracke, auch die Katakomben-Stimmung des Gartenbau-Kellers in dem wir Adventskränze flochten und Pflanzen umtopften, auch die Stimmungen auf dem pfützenreichen Wiesenweg durch die Wümme-Niederung zum Bahnhof.

Kannte ich noch den Morgenspruch? Andere kannten sogar noch ihre Zeugnissprüche. Ich nicht, aber Sigrid, mein Weib, zufällig auch eine Waldorfschülerin, Heidenheim. Dort hatte sie später Fräulein Kaufmann und Frau v. Negelein erlebt. Und natürlich ihre Kinder, dabei Manfred, damals in unserer Klasse und nun auch wieder dabei.

Lebendig wurden auch die Gesichter und Persönlichkeiten all der Mitschüler, die schon gestorben sind oder die zu krank und hinfällig waren, um noch dabei zu sein. Wir haben an viele von ihnen gedacht. Wir berichteten und hörten, was die anderen erzählten über sich selbst, über die Stationen unseres Lebens, unsere Berufe, Schicksale, auch Erlebnissen von damals, mit Schülern, mit Lehrern. Es tat gut, dem allen zu lauschen. Manche hatten es schwer gehabt, auch in unserer Schule.

Am Sonnabend, und extra für uns, hatte Herr Seeger, bis eben noch selber Lehrer, seinen Nachmittag geopfert und uns durch die Schule geführt, durch die alten Klassenräume, über die Wendeltreppe, um die Eibe; er zeigte uns die Neubauten, den Schulgarten und berichtete aus seinem pädagogischen eigenen Leben. Jede Ecke wurde wieder lebendig; überall tauchten Erinnerungen auf, an Personen, an Ereignisse. Und wir sahen, wie sich unsere Schule entwickelt hat, seit damals, baulich, künstlerisch, pädagogisch, im Leitungsstil. Sogar die Landschaft, die Wümme und ihre Wiesen, so vieles! Die Schule lebt. Danke Herr Seeger für diese Führung!

Es war ja ein Sonnabend, und Nachmittag., und dennoch:
Eine Klasse der Jüngsten legte gemeinsam mit Lehrern und Eltern ihren Schulgarten an. Sie wollen ihn pflegen, bis ans Ende ihrer Schulzeit.

Später besuchten wir die „Hochschule für Künste im Sozialen“, der Gründung unseres Ehepaares Pütz. Auch hier wurde bis in den Abend intensiv bildhauerisch gearbeitet, Holz, Stein, Metall. Danke für das schöne Erlebnis. Einige nutzten den Weg zu einem Spaziergang durch die zum Frühjahr erwachende, langsam eindunkelnde Wümme-Niederung, den flachen Deich entlang und über die hölzerne Fußgängerbrücke.
Auf einer Bank drei junge Männer, eher noch Knaben, mit einander im ernsthaften Gespräch. Sie unterbrechen, wie wir vorbei gehen, schauen zu uns herüber:
„Guten Abend!“
„Guten Abend!“
Jemand von uns sagt: „Und keiner hatte einen Knopf im Ohr.“

L. die mit uns ging, hat noch immer ihren schönen raumgreifenden Gang, wie vor 60 Jahre.

Bleibt, „unseren“ Ottersberger zu danken: Hilde Dörl und Helmut Seeburg hatten alles vorbereitet, vom Quartier die Führungen bis zum Abschied bei Kaffee und Kuchen. Und sie haben Lust gemacht, es noch einmal zu versuchen, bevor wir wirklich zu alt sind.
Danke aber vor allem Euch, die Ihr dabei wart, einige mit ihren Frauen und Männern.

Anmerkung:
Fotos Nele Barkhausen und Manfred v. Negelein