Der junge Mann mit Brille in der achten Klasse und heute
Erinnerungen aus meiner Schulzeit
Von Thomas Didden, Dornach
Erinnerungen tauchen oft dann auf, wenn man z.B. mit Fotos aus der Vergangenheit konfrontiert wird. Zum Bild stellt sich dann schon rasch eine Empfindung ein und innere Bilder schliessen sich an.
Peter Stühl schickte mir im September letzten Jahres Fotos des 8-Klassenstückes, das wir 1972 in Ottersberg im alten Netzer-Saal im Ort aufgeführt hatten. „Alpenkönig und Menschenfeind“ von Ferdinand Raimund, Regie Kurt Dangschat - unser Klassenlehrer - und psychologisch geschickt, wie Peter Stühl eigentlich schon immer war, kam dann bald darauf auch die Frage, ob ich in meinen Erinnerungen kramen könnte. Nun, sie sind angeregt.

Nach Ottersberg kam ich am 29.11.1968, einem Freitag. Ich war zehn Jahre alt, hatte einen Nervenzusammenbruch hinter mir, nahm in Krisenlagen immer mein Valium und auf dem Gymnasium ging es nicht mehr. Der Psychiater meinte, wenn aus mir überhaupt noch etwas werden solle, müssten meine Eltern sich mit der Waldorfschule anfreunden. Eigentlich sollte ich dann auf die Waldorfschule in Krefeld wechseln, aber der entsprechende Klassenlehrer fand meine Geschichte “zu daneben“ und riet dringend zu einem Internat. Schloss Hamborn also: aber dort gab es keinen Platz. Den gab es nur in Rendsburg oder Ottersberg. In Ottersberg war mein Vater schon im Arbeitsdienst im Dritten Reich gewesen und dort gab es eine Heimleiterin, die hiess Frau Gertrud Haye. Und der Name erinnerte mich an das Kissen, das ich als Kind immer mit ins Bett nahm, mein Heiakissen. Nun denn, also Ottersberg. Und da ins Heim II, Netzer, wie es damals hiess. Also so ein typisches Einzelkind mit Problemen, schwierig, sensibel…und, und, und.

Kurt Dangschat stellte mich an diesem Freitag am Vormittag der damalige 5.Klasse und meinem Banknachbarn vor: Klaus-Michael Maurer; wir schüttelten uns mehrere Minuten lang die Hand. Der lockere Kontakt besteht noch heute.
Und damit begann jene Phase in meinem Leben, die mich, wie kaum eine andere, geprägt hat und für meine weitere Entwicklung verantwortlich war. Als erstes lernte ich absolutes Heimweh in allen Varianten kennen. Mein „Krisenvalium“ gab es nicht mehr. Schule war an sich ja gut, da gab es eigentlich nicht viel zu sagen. Kurt Dangschat gab den Hauptunterricht, seine Frau Gundula und später Hedi Albert Englisch; Französisch lernte ich zuerst bei Frl. Siebert (ich hatte ja auf dem Gymnasium Latein gehabt), mit Frl. Drechsler gab es Musik und Handarbeit bei Frau Maikowski (immerhin habe ich bei ihr in der kurzen Zeit besser stricken gelernt als meine Frau in ihrer ganzen Schulzeit) und später bei Frau Rosenthal (dank derer ich heute noch mit der Maschine nähen kann). Werken gaben Dieter Chrometzka und Klaus Kohlmeier, Eurythmie Frl. Schünzel. Wir waren meist 42 Kinder in der Klasse. Eigentlich alles nicht besonders „aufregend“.

Aber das Leben im Internat war bei Gott für das Einzelkind nicht ganz einfach. Verschiedenste Erzieherinnen und Erzieher zogen vorbei (Gertrud Haye, Herr Niederstrasser, das Ehepaar Rohde, Herman Middel, einige „Eintagsfliegen“ und schliesslich Peter Stühl). Und immer wieder war die Frage: zu wem habe ich Vertrauen? Wer gibt mir die Wärme, die ich doch eigentlich suche? Gertrud Haye, Herman Middel und Peter Stühl waren hier meine Anker.

Mitschüler und Mitschülerinnen im Heim – ja das waren unterschiedlichste Begegnungen, Erfahrungen, Erlebnisse. Ich war weder sportlich, noch handwerklich geschickt. Toben war nicht meine Sache. Manchmal machte man mit, wenn es abenteuerlich war: als der Ottersberger Hof ausgebrannt war und wir eine Lichtschranke aus der ausgebrannten Kegelbahn ausbauten, was aufmerksame Nachbarn natürlich direkt merkten und uns die Polizei auf den Hals jagten. Oder in der intensiven Suche nach dem unterirdischen Gang zwischen dem Amtshof und einem Bauernhof in der Umgebung. Und dann hatte ich immer wieder so ein blödes Problem, wie ich fand: ich stotterte. Und das kann manchmal ziemlich störend sein. Es gab zwar Herrn Vieweger, bei dem ich andere Atemtechniken lernte, wofür ich heute noch dankbar bin. Bis ich dieses Problem aber durch mein Bewusstsein wirklich weitgehend in den Griff bekam vergingen nochmals 14 Jahre.

Zwei Momente aber haben einen wirklich tiefen Eindruck hinterlassen, der bis heute lebendig nachwirkt. Als katholisch getaufter Junge aus einer streng katholischen Familie war ich in Ottersberg in der Diaspora gelandet. Alle zwei Wochen fuhr der Kirchenbus zur Messe nach Achim. Ja, da musste ich wohl hin und wieder hinfahren; meine Eltern wollten das ja so. Viel beeindruckender war aber der Besuch der Sonntagshandlung im Musiksaal im Amtshof, zunächst an den dazwischen liegenden Sonntagen und dann eigentlich fast jeden Sonntag. Magdalene Ithwari Kiefel oder Reinhard Paul am Altar zu erleben, war tief bedeutsam und in die Seele des Knaben wurden Keime gelegt, die erst viele Jahre später aufgingen, aber bis heute wirksam sind.

Unter Anleitung von Peter Stühl in der Schülerdruckerei Manufaktur an der Herstellung des Buches der „Pflanzenmärchen“ von Michael Bauer zu arbeiten, im Winkelhaken die einzelnen Lettern zum Schriftbild zusammenzusetzen, die Klischees auf der alten Druckpresse der MS Bremen einzuspannen und dann die 100 Exemplare der ersten Auflage zu drucken und die Blätter auf den Bänken vor dem Saal zum Trocknen auszulegen, das war eine Tätigkeit, mit der ich mich endlich wirklich vollständig verbinden konnte. Hierfür war keine Minute zu schade. Und dann mit „Stühl“ und anderen zusammen nach Bochum zu Roland Stalling, dem Illustrator, zu fahren, bei dem es russischen Tee mit Butter gab, und die Illustrationen für den Band zusammenzustellen, ja das war wirkliches Erwachen des inneren Engagements, der Begeisterung an der Tätigkeit.

Ich bewohnte mit drei Zimmerkameraden einen Teil des oberen kleinen Saales des alten Hotels, das Viererzimmer, das durch eine Holzwand vom Sechserzimmer abgetrennt war; zum Gang hin reichte die Wand aber nicht bis zur Decke. Wir hatten metallene Bettgestelle mit einfachsten Matratzen; der Fussboden waren alte gestrichene Holzdielen. Abends veranstaltete ich nun ebensolche „Teestunden“ wie ich sie bei Stalling erlebt hatte, in unserem Zimmer mit Tischchen und Deckchen und natürlich auch mit Kerzenschein. Wir unterhielten uns oder es wurde gelesen. Das wiederholte sich mehrmals, wenn die jüngeren Schüler Bettruhe hatten. Einmal kam Stühl aufgeregt in unser Zimmer, er hatte vom Flur aus Rauchschwaden an der Decke bemerkt. Es war aber nicht – wie von ihm befürchtet - die Kerze, die einen Brand verursacht hatte, sondern ein Kurzschluss in der Hauptschalttafel neben unserem Zimmer.
Man bedenke, im alten Hotel – die Theke war noch im Esssaal – waren teilweise die Elektroleitungen auf der Holzwand installiert und mit Lüsterklemmen aneinandergefügt…

Und auch die Dampf-Heizung, die in einem kleinen Keller untergebracht war, hatte ihre Tücken. Eines Tages, während der Heizungsbauer, Herr Bauer, unten war, knallte es. Herr Bauer kam als schwarzer Mann die Treppe herauf; die Heizung war explodiert. Wir lebten in jeder Hinsicht als Grenzgänger.

Im Sommer 1972, am Ende der 8. Klasse wechselte ich dann an die Waldorfschule Krefeld. Ich war wohl nicht mehr ganz so „daneben“ wie noch vier Jahre zuvor. Und für die elfte und zwölfte Klasse entschied ich mich dann an die Rudolf Steiner Schule Bochum Langendreer zu gehen und dort das Abitur zu machen. Die Keime dafür, dass ich mich schon während meiner Oberstufenzeit mit Anthroposophie begann zu beschäftigen wurden in Ottersberg gelegt. Und die Fähigkeit, verschiedenste, auch schwierigere Situationen im Leben selbständig zu bewältigen, ist wohl auch der nicht immer einfachen Zeit im Internat zu danken.

Nach meinem Studium der Germanistik, Geschichte, Niederlandistik, Philosophie und Pädagogik in Bonn, Köln und Nijmegen, während dem ich meine Frau kennenlernte, zogen wir dann für zwölf Jahre nach Den Haag. Ich war in der „Academie voor Eurythmie“ für die kaufmännische und organisatorische Leitung verantwortlich, unterrichtete Kultur- und Literaturgeschichte an der Eurythmieschule und der Waldorfschule Den Haag und wir bekamen drei Kinder.
Dieser Zeit folgten dann vierzehn Jahre als Geschäftsführer der Goetheanum-Bühne in Dornach, in denen ich die Produktionsverantwortung für die Aufführungen von Goethes „Faust“ oder Rudolf Steiners „Mysteriendramen“ und auch für die vielfältigsten Eurythmieprogramme und Gastspiele hatte.

Heute bin ich als Oberstufenlehrer und Mitglied der Geschäftsleitung in der Rudolf Steiner Schule Birseck in Aesch bei Dornach tätig, habe die Endverantwortung für das Speisehaus am Goetheanum in Dornach und bin Koordinator der Arbeitsgemeinschaft der Rudolf Steiner Schulen in der Schweiz. Zu den drei Kindern sind zwei Enkelkinder hinzugekommen.
Rückblickend kann ich sagen: Ottersberg war in vielerlei Hinsicht prägend. Ohne die dortigen Begegnungen mit der Waldorfpädagogik und mit einzelnen charaktervollen Persönlichkeiten, ohne die dort erlebten Einsamkeiten und Herausforderungen wäre mein Leben grundlegend anders verlaufen.

Es hatte seinen Sinn, dass mich das Schicksal nach Ottersberg führte.