Oberstufen-Eurythmie-Abschluss im Mai 2015
Peter Stühl

Eurythmie, das unbekannte Wesen, ist eine ganz junge Kunstform, die durch Fragen an Rudolf Steiner ins Leben trat. Sie ist keine Musik und keine Sprache, sondern sie scheint etwas dazwischen zu sein.

Ja, sie ist wesenhaft, denn sie kann sich im Menschen ausbreiten, wenn sie mit Begeisterung aufgenommen wird und verwandelt nicht nur den Gang eines Schülers, sondern auch seinen ganzen Habitus. Das konnte gesehen werden, als die Oberstufe auf der Bühne stand.

Die Schüler der neunten Klasse
brachten von Edvard Grieg „Der Jüngling“, von Henryk Pachulski „Prélude C-Moll“ und von Jules Massenet „Elegie“ auf die Bühne. Die Aufgabe war, die jeweilige Stimmung des Stückes zu erfassen, und durch die eurythmischen Vorgaben umzusetzen und in die Sichtbarkeit zu bringen.

Die zehnte Klasse
hat an einem Hermann-Hesse-Projekt „Die Antwort bist du selbst“ gearbeitet und brachte daraus „Wie eine Welle“ mit Ole Armbrecht als Sprecher, „Bagavad Gita“, Sprecher Jasper Petersen, „Im Nebel“, Sprecher Luis Bohlmann. Dann folgte das Impromtu No.2 von Franz Schubert.

Hierbei wurden die Auf-und Abtritte vermieden. Die ganze Gruppe blieb stets auf der Bühne und begleitete die jeweils Aktiven „innerlich“, bzw. mit eurythmischen Grundgebärden. Das war für die Schüler der zehnten Klasse eine große Herausforderung, in keinem Moment der Aufführung „unbeobachtet“ zu sein.

Die elfte Klasse
fing mit einem Gedicht von Hilde Domin an: „Die schwersten Wege“, darauf folgten von Frédérik Chopin „Nocturne Op. 15/1 und von Claude Debussy „Claire de Lune“.

Stücke der Abschlussklasse
von ihrem Sprecher Jonathan Schwendtke vorgestellt. Er führte souverän durch diesen Teil der Darbietungen. Das Programm begann mit Frédéric Chopin „Nocturne No 1“.

Im Laufe des Schuljahres hatten sich die Schüler ihre Schwerpunkte selber gesucht, der in diesem Jahr im Bereich der Humoresken liegen sollte: „Der Eisbär“ von Josef Guggenmos, „Das Liebesbrief-Ei“ von Janosch, „Das Zebra“ von Alfons Pilach.




Das Gedicht von Conrad Ferdinand Meyer „Das Fundament“ war eine Soloarbeit.
Darauf folgte im eher klassischen Sinne die „Bagatelle“ von Ludwig van Beethoven. „Mulans Decision“ war eine Darbietung von sechs Mädchen, welche die erlernten Bewegungselemente frei und „modern“ nutzten.

Finale: Der Tierkreis
Den Abschluss der gemeinsamen Eurythmiezeit bildete der „Tierkreis“, mit dem sich die Schüler das ganze Schuljahr beschäftigt hatten. Eingebettet in die zwölf kosmischen Qualitäten und den zugehörigen Lauten und Gebärden wurde ein Gedicht von Christian Morgenstern, zum Auf-und Abgang des „Tierkreises“ gesprochen und das Präludium No.1 von Johann Sebastian Bach gespielt.

Die Eurythmielehrerinnen Maria Sinapius und Dana Stühl wurden unterstützt durch die KollegInnen Beate Berger und Martin Junghans als Klavierbegleitung.

Was konnten wir sehen? Was musste der Zuschauer hinzufügen?
Der Abend war geprägt von einem Gewoge junger Menschen auf der Bühne in beschwingten, farbigen Kleidern und voller Bewegung: Arme, Beine, Füße, der ganze Körper war in Bewegung und musste mit der Musik oder der Sprache schwingen. So etwas kann man nicht buchstabieren – als wenn man seinen Namen tanzt! - so etwas muss durch den ganzen Menschen hindurchgehen und es bedarf eines langen Üb-Prozesses, bis der Zuschauer das Gefühl bekommt, ja, das sitzt!

Das kann erst erreicht werden, wenn eine Sensibiliät dafür entwickelt wird. Die heutige Jugendgeneration ist durch ihre ganze Schulzeit gestimmt, sich selber auszubilden, aber auch bereit, diese Fortschritte mit anderen, dem Publikum, zu teilen. Der ganze Mensch, die ganzen Menschen, die wir da auf der Bühne sehen, koordinieren nicht nur bei sich selbst, sondern sie harmonieren gleichzeitig mit ihren Partnern auf der Bühne und der Musik/Sprache. Es ist nicht nur ein Prozess in der jeweiligen Schülergruppe, der dabei wichtig ist. Der ist auch nötig, aber wir vergessen dabei nicht die ganze Schul-Atmosphäre, die eine große Rolle spielt. Die Schüler kämen nicht zu diesen Leistungen, wenn es nicht eine gewünschte Akzeptanz im Kollegium, in der Schule gäbe, für eine Ausbildung des ganzen Menschen. Darunter wird in der Waldorfschule der Mensch nach Leib, Seele und Geist verstanden. Wir wollen auch nicht die Arbeit bei solch einer Aufführung vergessen, die von den Kollegen und Kolleginnen im Bewegungsbereich geleistet wird. Alles gehört dazu, der Schüler, der bereit ist, sein Bestes zu geben und die Lehrer, die den Weg zu jeder einzelnen Schülerpersönlichkeit finden und entwickeln. Die dritte Eurythmiekraft der Schule, Frau Bärbel Weitkus, steht bei diesem Abschluss nicht mit auf der Bühne, aber sie wirkt in der Unter- und Mittelstufe und kennt die Schüler, die auf der Bühne stehen.



Die sichtbare Sprache (Einschiebung)
Wenn wir zwei Menschen von außen betrachten, so sehen wir sie einzeln stehen, jeder ganz für sich. Vielleicht stehen sie mit dem Rücken zueinander. Wir sehen nicht, dass sie etwas miteinander zu tun hätten.

Sollten sie sich einander zuwenden, so können wir sehen, dass da immer noch zwei Menschen sind, aber sie bewegen sich aufeinander zu. Wir sehen, wie der eine Mensch seinen rechten Arm hebt und mit der Hand zeigt. Der andere wendet sich der Geste und den Worten des ersteren zu und reagiert darauf. Die beiden kommen in einen Austausch, in ein Gespräch, das aus Gesten und Sprache und auf Hören basiert.

Aktivität und Aufmerksamkeit spielen dabei eine große Rolle. Sprechen und hören, das sind die Voraussetzungen für die Kommunikation, aber auch das, was dazwischen liegt. Die beiden Menschen sind während dieser Kommunikation zwar immer noch einzelne Wesen und es passiert, dass eine solche Begegnung eine Übereinkunft erzeugt, dass sie sich in diesem Augenblick Eins fühlen, dass sie sich abstimmen können, dass sie harmonieren.

Das Wesen der Eurythmie wird oft beschrieben als sichtbare Sprache oder sichtbare Musik. Beides wird von einem Menschen umgesetzt, der sie aufnimmt.

Wahrnehmungs- und Erlebnisgrenzen*
In der Literatur hat Kaspar Zett vor kurzer Zeit geschrieben, dass heute viele Menschen zunehmend, als ein ablesbares Zeitphänomen, an die Wahrnehmungs- und Erlebnisgrenzen des physischen Raumes wollen. Nicht nur im Spitzensport, sondern in allen erdenklichen Lebensbereichen suchen Menschen
Grenzerfahrungen und Schwellenerlebnisse.

So streben viele Menschen – immer mehr – zur Imagination. Bilder werden gesucht. Es ist ein regelrechter Bildhunger entstanden im Konsum der digitalen Bilderwelten.
Rudolf Steiner hat darauf hingewiesen, dass der Zeitgenosse einen Weg findet zu den Imaginationen, also zum Bilderzeugen und Erleben. Dies wird durch die technisierte Bilderflut korrumpiert und unterdrückt.

Der Autor zitiert Rudolf Steiner:
„Wir sind seit der Mitte des 15.Jahrhunderts in den fünften nachatlantischen Zeitraum eingetreten. Bevor dieser abläuft, müssen tatsächlich die Menschen lernen, ihr Denken so zu beherrschen wie ihre Arme und Beine... Nun wird aber mit dem, was ich eben angedeutet habe, mit diesem Beherrschen des Denkens etwas wesentlich anderes verknüpft sein. Die Menschen werden, je mehr sie das Denken zu beherrschen beginnen, desto mehr in die Lage kommen, wieder bildlich vorzustellen, Imaginationen zu haben. Und diese werden gebraucht, denn nur dadurch können sich in die heute vielfach wirkenden antisozialen Triebe die sozialen Triebe hineinentwickeln, dass die Menschen die Fähigkeit bekommen, sich so recht in die anderen Menschen, in ihre Mitmenschen hineinzuversetzen. Man kann sich nicht durch das bloße abstrakte Denken in die Mitmenschen hineinversetzen. Das abstrakte Denken macht eigensinnig, das abstrakte Denken bringt den Menschen dazu, bloß auf seine eigene Meinung zu hören. Und vor allem bringt es dazu, sich abzuschließen mehr oder weniger von der Beweglichkeit, die man braucht, um mit der geistigen Welt leben zu können.“

Was ist in diesem Zusammenhang Eurythmie?
Sie ist ein Gegenmittel zur Gegenwartskultur, der isolierenden und anonymisierenden Intimität der allgegenwärtigen Handy- und Internetkultur. Ist es angebracht zu fragen, was es bedeutet, wenn eine Eurythmieform oder sogar eine ganze Choreografie gemeinsam bewegt wird? Ist sie deshalb so schwer, weil es immer gleichzeitig auch eine konkret praktizierte Sozialkunst ist?

Wie wird der dreidimensionale Raum überwunden?
Rudolf Steiner:“Der Übergang vom Material zu den form-bildenden Prozessen ist der Schritt vom Physischen zum Ätherischen. Man muss die Handgriffe lernen, das Raumgefühl, die Fomkräfte. In der Eurythmie lebt die redende Seele, die ihre Worte dem Verständnis mitteilen will, das den Raum überwindet.“

Um ins Ätherische bewegend und wahrnehmend einzutreten oder in ihm aufzuwachen, versucht der Schüler, innerlich den dreidimensionalen Raum zu überwinden. Aber wohin lässt sich das Rechts-Links, Vorne-Hinten und Oben-Unten verwandeln und steigern?

Es kann versucht werden, diesen dreidimensionalen Raum zu überwinden über das räumliche und zugleich seelische Gleichgewicht, dass lernt, aus der Mitte des Ich-Zentrums weitere Qualitäten hinzuzufügen. Das ist ein längerer Prozess, der dahin führt, wo die Eurythmie beheimatet ist, ins Ätherische selber. Der Ätherleib wurde auch oftmals „Zeitenleib“ genannt. Wir wissen aus der Geisteswissenschaft, wie der physische Leib durch einen Verdichtungsprozeß aus dem Ätherischen gebildet wurde und vier Kräftearten durchdringen heute den physisch-ätherischen Organismus. Drei davon – denken-fühlen-wollen- beeinflussen den Menschen einseitig, die vierte Kraft, die Ich-Kraft, harmonisiert diese.

„Ich denke die Rede“
Nicht zufällig ist die Eurythmie-Übung „Ich denke die Rede“ (Wer bei der Aufführung dabei war, wird sich erinnern an den Anfang, wo alle Teilnehmenden auf der Bühne standen mit dieser Übung!) eine geeignete Einstiegsübung in die ätherischen Gesetzmässigkeiten, die in der Eurythmie wirksam sind. Sie findet ganz in der Fläche, ganz in der Frontalebene zwischen vorne und hinten statt.
Wer es sehen will, kann ein begleitendes Phänomen wahrnehmen aus dem unter-sinnlichen Zusammenhang die Fernseher und Bildschirme werden immer flacher. Wobei diese Fläche aber noch ganz im Zweidimensionalen beheimatet ist.)

*Der nun folgende Versuch einer Zusammenfassung ist dem „Rundbrief der Sektion für redende und musizierende Künste, Ostern 2015, Seite 13 entnommen.